Nur das Sprechen fällt ihr wegen der Mundtrockenheit immer schwe- rer. Was alle, die am Sterbeprozess meiner Mutter teilhaben, zutiefst beeindruckt, ist, mit welcher Stärke diese alte und an sich so geschwäch- te Frau das Leiden über sich ergehen lässt. Nicht ein einziges Mal beklagt sie sich ernsthaft darüber. Dankbar nimmt sie jedoch eine sanfte Ge- sichtswaschung, eine Mundpflege oder ein paar entspannende Töne der Klangschale oder des Glocken- spiels, das über dem Bett hängt, ent- gegen. Für meinen Vater hingegen ist es eine schwierige, belastende und traurige Phase. Die Rolle der beglei- tenden Personen beim Sterbefasten ist nicht zu unterschätzen. Sicher gibt es diesbezüglich nicht einfach die eine richtige Art. Achtsamkeit und das feine Lesen von körperlichen Signalen sind jedoch von zentraler Bedeutung. Und so muss ich meinen Vater während der letzten Lebens- tage meiner Mutter bitten, sie ver- mehrt allein zu lassen. Für ihn ist das äusserst schwierig, möchte er doch jede gemeinsame Stunde noch aus- kosten. Meine Mutter aber, so zumin- dest verstehe ich ihre Botschaften, braucht dringend das Alleinsein, um sich dem Sterbeprozess hingeben zu können. Sie, die zeitlebens zuerst an alle anderen gedacht hat und nun auch im Sterbeprozess noch an meinen leidenden Vater zu denken scheint, kann in seiner Gegenwart kaum wirklich loslassen. Mein Vater versteht – und zieht sich zurück. Er muss das radikale Loslassen alles Irdischen seiner Frau respektieren, so wie er bereits im Vorfeld ihren eigenwilligen Weg in seiner ganzen Tragweite akzeptieren wollte, ohne zu sehr an sich zu denken. Ich ziehe innerlich den Hut vor ihm. 13 lange Tage und Nächte Während der letzten zwei Tage ihres Lebens – oder Sterbens – ist meine Mutter nur noch beschränkt an- sprechbar. Ihre Atmung wird immer flacher, stockt, ihre Augen bleiben meist geschlossen. Viele Male den- ken wir, das war er nun, der letzte Atemzug. Mein Vater möchte jede gemeinsame Stunde noch auskosten Vor dem zweitletzten Tag habe ich, es ist bereits weit nach Mitternacht, die plötzliche Eingebung, zu ihr ins Spital zu fahren. Als ich dort ankom- me, sind zwei Pflegefachpersonen gerade dabei, sie umzulagern. Ich helfe, wo ich kann. Beim Wenden ihres gebrechlichen Körpers schreit sie auf, herzzerreissend. Ich frage die Pflegenden, wie viel Schmerz- mittel sie ihr gegeben hätten. Sie nennen mir die Dosis – und mir ist so- fort klar, dass das viel zu wenig war. Ich frage nach, bitte etwas unwirsch um die höchstmögliche Dosierung. Sie seien nur zur Aushilfe hier, wür- den sonst in der Chirurgie arbeiten, entschuldigen sich die beiden – und willigen letztlich ein. Aber nicht ohne zuvor noch anzumerken, dass Men- schen beim Sterben eben massive Schmerzen hätten: «Ist das nicht normal?» Ich werde sauer, sauer auf die Tatsache, dass auch heute noch vielfach eine adäquate Schmerzbe- STERBEFASTEN handlung fehlt, generell in der Medi- zin, aber punktuell auch in der Pallia- tion. Welche Motive verbergen sich hinter dieser seltsamen Praxis? Mit einer konsequenten, professionellen und empathischen Schmerztherapie gäbe es, so bin ich überzeugt, weni- ger Alterssuizide. Im Gegenzug be- käme die Palliativmedizin mit ihrem ganzheitlichen Ansatz noch mehr Zuspruch. Nachdem meine Mutter die angepasste Dosierung bekom- men hat, entspannt sich ihr Gesicht und Frieden macht sich breit. Der dreizehnte Fastentag bricht an. Noch immer kein Schluck Wasser, kein Bissen Nahrung, kein Wort der Klage – dreizehn lange, meist be- wusste Tage und Nächte des War- tens auf den erlösenden Tod. Nun ist es bald so weit. Über Mittag gehe ich erneut zu meiner Mutter. Mein Vater weicht ihr nicht mehr von der Seite. Wir reden nur wenige Worte. Und es stimmt so. Weil ich in der Nacht zu- vor praktisch nicht geschlafen habe, entscheide ich mich für eine kurze Mittagssiesta zuhause. Ich verab- schiede mich von meiner Mutter so, wie ich mir ein definitives «à Dieu» vorstellte. Mein Vater bleibt. Hält ihr die Hand. Zwei Stunden später, ich bin bereits wieder wach und auf dem Weg zu- rück in die Palliativstation, erreicht mich das Telefon der betreuenden Pflegefachfrau. Meine Mutter ist ge- storben. Mein Vater war an ihrer Sei- te. Leise und still tat sie ihren letzten, erlösenden Atemzug. Ich atme auf. ANDREAS BAUMANN Umfassende Informationen und FAQ zum Sterbefasten: www.sterbefasten.org Dieser für das EXIT-«Info» gekürzte Text erschien zuerst in der Zeitschrift «annabelle». Die Ausgabe 23/5 mit der ausführlichen Version kann (kostenpflichtig) bei redaktion@annabelle.ch nachbestellt oder hier online gelesen werden: https://www.annabelle.ch/leben/ich-freue-mich-auf-die-ewigkeit-ein-abschied-mit-sterbefasten/ EXIT-Info 4.2023 19