jeden Abend lasse ich den Tag los, dankbar für alles, was war, offen für das, was kommen mag, und sei es das Lebensende. Kann EXIT zu einer «Lebenskunst des Alterns und Sterbens» beitragen? Ja, EXIT ermöglicht es, selbst zu be- stimmen, wann genug ist, und bietet eine Möglichkeit, bewusst Abschied zu nehmen. Dies ist eng mit dem «Sterben-Lernen» verbunden, da die Akzeptanz der Endlichkeit zu einem intensiveren Leben führt. Für viele beginnt die Auseinandersetzung mit dem Thema Sterben, wenn sie über eine EXIT-Mitgliedschaft oder eine Patientenverfügung nachdenken. Ge- spräche über das Sterben, oft mit Part- nern oder Kindern, helfen, den Tod als natürlichen Teil des Lebens zu akzep- tieren. So trägt EXIT dazu bei, dass Menschen dem Tod gelassener und bewusster entgegengehen können. Die positive Wertung des Sterbens in fortgeschrittenem Alter ist eine Herausforderung an Medizin und Gesellschaft: Wie können wir diese Umdeutung schaffen? Ein Expertenbericht der «Lancet Commission on the Value of Death» aus dem Jahr 2022 brachte es auf den Punkt: «Sterben ist gesund.» Anstatt den Tod als medizinisches Versagen zu betrachten, sollten wir ihn als bedeutungsvollen Übergang akzeptieren. Wir brauchen eine Ent- pathologisierung des Sterbens. Ster- ben ist nach diesem Expertenbericht ein wertvoller Teil eines gesunden Al- ters. Das müsste öffentlich, in Fach- kreisen, in der Erwachsenenbildung und auch in religiösen Gruppen ver- mehrt thematisiert werden. Was ist, wenn sich jemand über- haupt nicht mit diesen Themen auseinandersetzen will? Die Anti-Aging- und Longevity-Be- wegung erleichtert diese Auseinan- INTERVIEW dersetzung nicht. In der Gerontolo- gie versucht man, das Alter als Teil des Lebensprozesses zu begreifen. Leben ist grundsätzlich Altern. Es hilft, zu erkennen, dass ein gutes und intensives Leben Veränderung und Loslassen bedeutet. Leben entfaltet jederzeit vorbei sein kann. Doch ge- nau das macht sie so reizvoll: Jeder Tag, jedes Jahr, das noch kommt, ist kostbar und weniger selbstver- ständlich als früher. Das, was da ist, bekommt dadurch einen Glanz und eine besondere Intensität. Ein gutes und intensives Leben bedeutet Veränderung und Loslassen sich am besten, wenn man es als Zy- klus von Lebensphasen versteht und jede Phase intensiv lebt – immer im Wissen, dass jede Phase und das Le- ben als Ganzes nicht ewig dauert. Es geht nicht darum, möglichst lange jung zu bleiben, sondern ein offenes Verhältnis zum Älterwerden zu ent- wickeln. Älterwerden verstanden als ein «Werden zu sich selbst im Ver- gehen», wie der Philosoph Thomas Rentsch es sagt. Was sind die grössten «Gewinne» des Alterns aus Ihrer Sicht? Eine innere Freiheit entsteht, weil man niemandem mehr etwas be- weisen muss. Es wird möglich, ein- fach sich selbst zu sein und offen die eigenen Gedanken zu äussern. An- statt den unbesiegbaren Helden zu spielen, darf man seine Grenzen und Verwundbarkeiten anerkennen. Und man gewinnt Zugang zu existenziel- len Erfahrungen, die man in jungen Jahren so noch kaum hat: Gelassen- heit, Geduld, Musse, entschleunig- tes Lebenstempo, Offenheit für die passiven Seiten des Lebens und für das Unverfügbare. Wer sich darauf einlässt, bereichert sein Alter. Für mich sind die Jahre in den 70ern die schönsten bis jetzt – intensiv, aber auch mit dem Bewusstsein, dass es Es gibt verschiedene Forschungs- ansätze, die den Alterungsprozess verlangsamen oder gar stoppen wollen. Welche ethischen Frage- stellungen wirft die Suche nach dem «ewigen Leben» auf? Endlichkeit gehört zum menschlichen Wesen. Sie ist eine gnädige Begren- zung, die es ermöglicht, dass Neues wachsen kann, indem Altes ver- schwindet. Lebenszeit ist deshalb so wertvoll, weil sie begrenzt ist. Ewiges Leben wäre eintönig und für Nach- kommende belastend. Der Wunsch, immer länger zu leben, ist Ausdruck einer egoistischen, gierigen Existenz, die sich selbst zu ernst nimmt. Das ist ethisch problematisch und ein Zei- chen von mangelnder Reife. Und welche ethischen Grundsätze halten Sie in der Debatte um Suizid- hilfe für besonders relevant? Wichtig ist das Recht auf Selbstbe- stimmung – im Leben wie im Ster- ben. Im Kontext der modernen Medi- zin müssen wir ohnehin lernen, selbst Für mich sind die Jahre in den 70ern die schönsten bis jetzt zu entscheiden, wann der Zeitpunkt gekommen ist, das Sterben zuzu- lassen und nicht mehr dagegen an- zukämpfen. Selbstbestimmtes Ster- ben ist heute zum Normalfall des Sterbens geworden. Im Blick auf den assistierten Suizid halte ich es für sinnvoll, dass damit ein Beratungs- EXIT-Info 2.2025 7