KURZGESCHICHTE Blaues Ufer Wissen, wann man stirbt – für viele unfassbar. Ein Jungautor erzählt in dieser für EXIT geschriebenen Kurzgeschichte, wie er sich das selbstbestimmte Sterben vorstellt. Nach dem Telefonat bin ich sofort rausgegangen. Ich hatte mir schon davor Jacke, Schal und Schuhe an- gezogen, sodass ich nur noch den Hörer hinlegen und hinausgehen musste. Ich glaube, die Sonne schien, aber sicher bin ich mir nicht. Was ich weiss: Dass es nach Rauch roch, dass auf dem Weg braune Blätter lagen, dass ich gerade per Telefon meinen Todestag festgelegt hatte. Ich über- querte die Strasse und ging in den Wald hinauf, ohne darüber nachzu- denken. Es erschien mir richtig, jetzt in der Natur zu sein. Was ich getan hätte, wenn es keinen Wald in der Nähe gehabt hätte, weiss ich nicht. Vielleicht geweint. Oder Radio ge- hört, um die eigenen Gedanken von der vertrauten Stimme des fremden Moderators übertönen zu lassen. Es waren wenig Menschen im Wald unterwegs. Ein paar Hundebesitzer, einige Joggerinnen, niemand, den ich kannte. Ich grüsste und dachte jedes Mal, dass ich im Gegensatz zu ihnen ganz genau wusste, wann ich sterben werde. Auf die Stunde ge- nau. Wie einen meiner vielen Arzt- termine hatte ich es abgemacht. Mir kam in den Sinn, dass ich dies nie wieder tun musste. Der Gedan- ke freute mich. Die letzten Wochen hatte ich immer nur an die schönen Dinge gedacht, die ich bald zum letzten Mal tun würde; die kleinen Anstrengungen des Alltags hatte ich völlig vergessen. Nun, da ich mir ihrer wieder bewusst war, dachte ich oft an sie, erinnerte mich an das nächt- liche Gebell des Nachbarhundes, an die fürchterlichen Magazine und die tote Zeit in Wartezimmern, an die 12 EXIT-Info 2.2024 stinkenden Toiletten in den Zügen und die endlosen Werbepausen im Abendprogramm. Fast versöhnte ich mich mit all diesen Dingen, weil sie mir den Gedanken an den baldigen Tod erleichterten. Denn natürlich ist es nicht leicht zu sterben, auch wenn man schwer krank ist und sich selbst dafür entschieden hat. Jemand müsste ein Gedicht darüber schreiben, über die blauen Hügel, den weissen Himmel und den silbernen See Der Tag, an dem ich sterben werde, ist ein Montag. Ich bin froh, dass es so ist, obwohl es eigentlich keine Rol- le spielt. Bis dahin werde ich meinem gewohnten Leben nachgehen. Nur, weil ich bald sterben werde, ausge- fallene Dinge zu tun, erscheint mir sinnlos. Nur Schnee hätte ich gern noch einmal gesehen, aber die Kalt- front über Hamburg soll die Schweiz erst nächste Woche erreichen. Vor- her muss ich noch die Pflanzen im Garten einpacken und die Blumen- beete mit Tannenzweigen abdecken. Mein Testament habe ich bereits ver- fasst und auch die Abschiedsbriefe liegen geschrieben in der obersten Schublade meines Schreibtischs. Ich habe fünf Tage damit verbracht, die richtigen Worte zu finden. Was soll man auch schreiben, in einem letz- ten Brief? Was wichtig war, lässt sich kaum in Worte fassen. Dass ich mich nicht persönlich ver- abschieden möchte, war mir von Anfang an klar. Wie hätte das auch ausgesehen? Man konnte sich doch nicht in einem Café verabreden, ein bisschen erzählen, ein bisschen zu- hören, ein bisschen Kaffee trinken und dann damit rausplatzen, dass man sich nächsten Montag das Le- ben nehmen wird. Und genauso un- möglich erscheint es mir, im Beisein meiner Familie oder Freunde zu ster- ben. Ich will selbstbestimmt und wür- devoll gehen, wären aber Menschen dabei, die mein Leben ausmachen und mich daran binden, würde ich sicher weinen. Das möchte ich auf keinen Fall. Weinend aus dem Leben zu treten, kommt nicht infrage. Das einzig Ausserordentliche, das ich getan habe, war, alle meine Uh- ren wegzugeben. Ich brauche sie ja nicht mehr, denn ich muss nirgend- wo mehr sein, bin frei von allen Ver- pflichtungen und nicht mehr an das menschliche Konstrukt der Stunden und Minuten gebunden. Ausserdem merkte ich, dass ich dauernd auf die Zeiger blickte, ihnen minutenlang bei ihrem Tanz um die Mitte zusah, als zählte ich unablässig meine verblei- benden Stunden ab. Also warf ich alle Uhren in eine Einkaufstüte und brachte sie in den nächsten Second- handladen. Es waren eine ganze Menge Uhren. Fünfzehn, um genau zu sein, Armbanduhren und Wecker inklusive. Die Zahl überraschte mich; mir war nie bewusst gewesen, dass ich so viele Uhren besass. Nachdem ich sie abgegeben hatte, setzte ich mich ins Wohnzimmer und begann die Dinge darin zu zählen. Bald wur-